DER CELBEDEIL
Am
nächsten, noch finsteren Morgen ging Eragon in Ûndins Haupthalle
und hörte das Clan-Oberhaupt in der Zwergensprache mit Orik reden.
Ûndin brach das Gespräch ab, als Eragon hereinkam, und sagte: »Ah,
Schattentöter. Hast du gut geschlafen?«
»Ja.«
»Sehr schön.« Er deutete auf Orik. »Wir
haben über eure Abreise geredet. Ich hatte gehofft, ihr würdet
etwas länger bleiben können. Aber unter den gegebenen Umständen ist
es wohl besser, wenn ihr morgen in aller Frühe aufbrecht, solange
noch kaum jemand auf den Straßen ist, der euch belästigen könnte.
Proviant und Transportmittel werden in diesem Augenblick
zurechtgemacht. Hrothgars Befehl lautete, dass euch Wachen bis nach
Ceris begleiten sollen. Ich habe ihre Zahl von drei auf sieben
erhöht.«
»Und was machen wir bis morgen?«
Ûndin zuckte mit den pelzgeschmückten
Schultern. »Eigentlich wollte ich dir Tarnags Wunder zeigen, aber
es ist im Moment nicht ratsam, in meiner Stadt herumzuspazieren.
Grimstborith Gannel hat dich in den Celbedeil eingeladen. Nimm das
Angebot ruhig an, wenn du willst. Bei ihm bist du in Sicherheit.«
Das Clan-Oberhaupt schien seine Beteuerung vom Vortag vergessen zu
haben, dass der Clan der Az Sweldn rak Anhûin einem Gast nichts tun
würde.
»Vielen Dank, ich glaube, das werde ich
tun.« Im Hinausgehen zog Eragon Orik beiseite und fragte ihn: »Wie
ernst ist diese Blutfehde wirklich? Ich will die Wahrheit
wissen.«
Orik antworte äußerst zögerlich. »Früher war
es nicht ungewöhnlich, dass sich Blutfehden über Generationen
hinzogen. Es war ein Fehler der Az Sweldn rak Anhûin, diese
Tradition wieder aufleben zu lassen. So etwas hat es seit dem
letzten der Clankriege nicht mehr gegeben... Bis sie die
Feindschaft offiziell für beendet erklären, musst du dich vor ihren
Missetaten in Acht nehmen, sei es ein Jahr oder ein ganzes
Jahrhundert lang. Es tut mir Leid, dass deine Freundschaft mit
Hrothgar dir diese Fehde eingebracht hat, Eragon. Aber du stehst
nicht allein da. Der Dûrgrimst Ingietum steht an deiner
Seite.«
Draußen eilte Eragon sofort zu Saphira, die
die Nacht zusammengerollt im Hof verbracht hatte. Hast du etwas dagegen, wenn ich den Celbedeil
besuche?
Wenn es unbedingt sein
muss. Aber nimm dein Schwert mit. Er folgte ihrem Rat und
steckte auch Nasuadas Schriftrolle in sein Wams.
Als Eragon auf die Tore in der Umfriedung
des Geländes zutrat, schoben fünf Zwerge die schwere
Holzkonstruktion für ihn auf, dann nahmen sie ihn in ihre Mitte,
die Hände auf den Griffen ihrer Streitäxte und Schwerter, und
inspizierten die Straße. Sie begleiteten ihn, als Eragon auf
demselben Weg wie am Vortag zum vergitterten Eingang von Tarnags
oberster Terrasse ging.
Eragon schauderte. Die Stadt wirkte seltsam
verlassen. Die Türen waren geschlossen, die Fensterläden
heruntergelassen, und die wenigen Zwerge, die unterwegs waren,
schauten weg und bogen rasch in Seitenstraßen ab, um nicht an ihnen
vorbeigehen zu müssen. Sie haben Angst,
mit mir gesehen zu werden, begriff er. Vielleicht weil sie wissen, dass die Az Sweldn rak
Anhûin jeden bestrafen, der mir hilft. Darauf erpicht,
von der Straße zu verschwinden, hob Eragon die Hand, um
anzuklopfen, aber da schwang die Tür auch schon nach außen auf, und
ein Zwerg in schwarzer Robe bedeutete ihm hereinzukommen. Eragon
trat ein und ließ seine Begleiter draußen zurück.
Zwischen den mächtigen Säulen des Celbedeil
fiel ihm als Erstes der giftgrüne Rasen auf, der wie eine
übergeworfene Decke auf dem symmetrischen Tempelhügel lag. Dichte
Efeuranken, deren spitze Blätter von glitzerndem Morgentau bedeckt
waren, hingen von den uralten Gemäuern herab. Über allem thronte
die weiße, mit breiten Goldumrandungen verzierte Dachkuppel und
überragte alles, bis auf die umliegenden Berge.
Als Nächstes bemerkte er den Duft. Blumen
und Weihrauch vermengten ihre Wohlgerüche zu einem so ätherischen
Aroma, dass Eragon sich fühlte, als könnte er allein von diesem
Duft leben.
Das Letzte, was ihm auffiel, war die Stille,
denn trotz der vielen Priester, die in kleinen Gruppen auf den
Mosaikwegen und den weitläufigen Rasenflächen entlangschlenderten,
war das einzige Geräusch, das Eragon vernahm, das leise
Flügelschlagen einer Krähe am Himmel.
Der Zwerg winkte ihn weiter und schritt auf
dem breitesten der Wege auf den Celbedeil zu. Als sie unter den
Efeuranken hindurchgingen, konnte Eragon nur den Reichtum und die
Kunstfertigkeit bewundern, die ihn umgaben. In die Mauern waren
makellose Edelsteine jeder Farbe und Form eingearbeitet und die
steinernen Decken, Wände und Böden zierten aufwändige Muster aus
rötlich schimmerndem Gold. Perlen und Silber setzten glitzernde
Akzente. Gelegentlich kamen sie an Trennwänden vorbei, die
vollständig aus Jade bestanden.
Im Innern des Tempels gab es keinerlei
Stoffdekoration. Stattdessen sah man Unmengen von Statuen, von
denen viele Monster und Gottheiten in epischen Schlachten
darstellten.
Nachdem sie mehrere Stockwerke
hinaufgestiegen waren, traten sie durch eine mit Grünspan gewachste
Kupfertür in einen großen Raum mit Holzfußboden. An den Wänden
hingen Rüstungen und Halter mit Doppelschwertern, die dem glichen,
das Angela bei der Schlacht um Tronjheim benutzt hatte.
Gannel war da und trug mit drei jüngeren
Zwergen einen Übungskampf aus. Er hatte die Robe bis zu den
Oberschenkeln hochgerollt, um sich frei bewegen zu können, und war
hochkonzentriert, während das hölzerne Mittelstück in seinen Händen
hin und her wirbelte und die beiden stumpfen Klingen an den Enden
wie wütende Hornissen durch die Luft sirrten.
Zwei Zwerge sprangen auf Gannel zu, wurden
von ihm aber sogleich mit einem blitzschnellen Schlagwirbel außer
Gefecht gesetzt und zu Boden geschickt. Eragon schaute grinsend zu,
wie Gannel den dritten Kontrahenten mit einem brillanten
Täuschungsmanöver überraschte und entwaffnete.
Schließlich bemerkte er Eragon und schickte
die drei Zwerge hinaus. Als er sein Doppelschwert in die Halterung
hängte, fragte Eragon: »Sind alle Quan so geschickt im Umgang mit
der Klinge? Normalerweise sind Priester keine ausgebildeten
Schwertkämpfer.«
Gannel sah ihn an. »Wir müssen uns doch
verteidigen können. Es gibt viele Schurken in diesen Bergen.«
Eragon nickte. »Diese Schwerter sind
einzigartig. So eins habe ich bisher nur bei einer Kräuterheilerin
gesehen. Sie hat es in der Schlacht in Farthen Dûr benutzt.«
Der Zwerg sog die Luft ein und stieß sie
zischend zwischen den Zähnen aus. »Angela.« Seine Miene verdüsterte
sich. »Sie gewann das Schwert beim Rätselraten mit einem unserer
Priester. Es war gemein von ihr, denn wir sind die Einzigen, die
ein Hûthvír tragen dürfen. Sie
und Arya...« Er zuckte mit den Schultern und ging zu einem kleinen
Tisch, wo er zwei Krüge mit Bier füllte. Einen davon reichte er
Eragon und sagte: »Ich habe dich auf Hrothgars ausdrücklichen
Wunsch eingeladen. Er sagte mir, ich solle dich mit den Traditionen
der Zwerge vertraut machen, falls du sein Angebot, ein Ingietum zu
werden, annehmen solltest.«
Eragon nippte an dem Bier und schwieg,
beobachtete nur, wie sich auf Gannels breiter Stirn das Licht fing
und die knochigen Erhebungen Schatten auf seine Wangen
warfen.
Das Clan-Oberhaupt sprach weiter: »Noch nie
wurde ein Außenstehender in die Geheimnisse unseres Glaubens
eingeweiht und du darfst mit keinem, weder mit Menschen noch mit
Elfen, darüber reden. Ohne dieses Wissen kann man jedoch nicht
begreifen, was es bedeutet, ein Knurla zu sein. Du gehörst jetzt zum Dûrgrimst
Ingietum: unser Stein, unsere Halle, unsere Ehre. Verstehst
du?«
»Ja.«
»Komm!« Mit dem Bierkrug in der Hand führte
Gannel Eragon aus dem Übungsraum und lotste ihn durch fünf
prachtvolle Korridore zu einem Torbogen, hinter dem ein
schummriger, weihrauchgeschwängerter Raum lag. Ihnen gegenüber
stand die vom Boden bis zur Decke reichende Statue eines grübelnden
Zwergs, dessen Gesicht mit untypischer Rohheit aus braunem Granit
gemeißelt war.
»Wer ist das?«, fragte Eragon
ehrfürchtig.
»Gûntera, König der Götter. Er ist Krieger
und Gelehrter, kann aber leider auch sehr launisch sein, deshalb
verbrennen wir bei den Sonnenwenden, vor der Aussaat und bei
Todesfällen und Geburten Opfergaben für ihn, um uns sein Wohlwollen
zu sichern.« Gannel machte eine merkwürdige Handbewegung und
verneigte sich vor der Statue. »Bevor wir in die Schlacht ziehen,
beten wir zu ihm, denn er formte dieses Land aus den Gebeinen eines
Riesen und gibt der Welt ihre Ordnung. Alle Reiche gehören
Gûntera.«
Dann zeigte Gannel Eragon, wie man dem Gott
seine Ehrerbietung erwies, erklärte ihm die dabei verwendeten
Zeichen und Worte. Er erläuterte ihm die Bedeutung des Weihrauchs,
der Leben und Glück symbolisierte, und erzählte ihm die
verschiedenen Legenden über Gûntera, wie der Gott am Anbeginn der
Zeit voll entwickelt von einer Wölfin geboren worden war, wie er
gegen Monster und Riesen gekämpft hatte, um seinen Verwandten eine
Heimat in Alagaësia zu erobern, und wie er Kílf, die Göttin der
Seen und Meere, zur Frau genommen hatte.
Als Nächstes gingen sie zu Kílfs Statue, die
mit allergrößter Kunstfertigkeit aus hellblauem Stein gemeißelt
war. Ihr wallendes Haar umrahmte ein Gesicht mit fröhlichen,
amethystblauen Augen, und ihre Hände umschlossen eine Wasserrose
und einen porösen roten Stein, den Eragon nicht erkannte.
»Was ist das?«, fragte er und deutete auf
den Stein.
»Eine Koralle aus den Tiefen der See, die an
das Beor-Gebirge grenzt.«
»Eine Koralle?«
Gannel nahm einen Schluck von seinem Bier
und sagte dann: »Unsere Taucher fanden sie, als sie nach Perlen
suchten. Es scheint, dass im Salzwasser bestimmte Steine wie
Pflanzen gedeihen können.«
Eragon schaute verwundert. Er hätte nie
gedacht, dass Steine oder Felsen lebendig sein könnten, aber hier
war der Beweis, dass sie nur Wasser und Salz benötigten, um zu
erblühen. Es erklärte endlich, warum man auf den Feldern im
Palancar-Tal immer wieder Steine fand, selbst nachdem der Erdboden
jeden Frühling penibel durchfurcht worden war. Die Steine wachsen wie Pflanzen!
Sie gingen weiter zu Urûr, dem Meister der
Lüfte und des Himmels, und seinem Bruder, Morgothal, dem Gott des
Feuers. Vor Morgothals karminroter Statue erzählte der Priester,
wie sehr die Brüder einander liebten und dass keiner ohne den
anderen existieren konnte. Deshalb gab es tagsüber Morgothals
brennenden Sonnenpalast am Himmel und des Nachts die Sternenfunken
aus seiner Schmiede. Und damit er nicht starb, versorgte Urûr
seinen Bruder fortwährend mit neuer Nahrung.
Danach waren nur noch zwei Götter übrig:
Sindri, die Mutter der Erde, und Helzvog.
Helzvogs Statue unterschied sich deutlich
von den anderen. Der nackte Gott beugte sich halb herunter zu einem
zwergengroßen Brocken aus grauem Feuerstein und berührte ihn
liebevoll mit der Zeigefingerspitze, sein Gesichtsausdruck so
zärtlich, als läge vor ihm ein neugeborenes Kind.
Gannels Stimme wurde ein Flüstern: »Gûntera
mag König der Götter sein, aber Helzvog ist derjenige, der unsere
Herzen berührt. Er war es, der nach dem Sieg über die Riesen der
Meinung war, das Land müsse besiedelt werden. Die anderen Götter
waren dagegen, doch Helzvog ignorierte sie und schuf aus dem Stein
eines Berges den ersten Zwerg.
Als man seine Schöpfung entdeckte, wurden
die anderen Götter neidisch, und Gûntera erschuf die Elfen, damit
sie für ihn über Alagaësia herrschten. Danach erschuf Sindri aus
der Erde die ersten Menschen und Urûr und Morgothal kombinierten
ihr Wissen und schenkten der Welt die ersten Drachen. Nur Kílf
hielt sich zurück. So sind die Völker entstanden, die es heute
gibt.«
Gebannt lauschte Eragon Gannels Ausführungen
und freute sich über dessen Offenheit, doch eine simple Frage wagte
er nicht zu stellen: Woher wusste er das alles? Woher stammten
seine Kenntnisse? Eragon spürte, dass die Frage unschicklich
gewesen wäre, und nickte bloß, während er dem Clan-Oberhaupt
zuhörte.
Gannel trank den letzten Schluck Bier aus
und fuhr fort: »Das bringt uns zu unserem wichtigsten Ritual. Orik
hat dir schon davon erzählt. Alle Zwerge müssen im Gestein begraben
werden, weil sonst unser Geist nicht in Helzvogs Halle einziehen
kann. Wir entstammen nicht der Erde, der Luft oder dem Feuer,
sondern dem Stein. Und als Ingietum ist es deine Pflicht, eine
angemessene Ruhestätte zu finden für einen Zwerg, der in deiner
Begleitung sterben sollte. Tust du das nicht - außer du bist
verletzt oder wirst angegriffen -, wird Hrothgar dich verstoßen,
und kein Zwerg wird dich je wieder beachten.« Er straffte die
Schultern und sah Eragon eindringlich an. »Du musst noch viel
lernen, aber wenn du dir das, was ich dir heute erzähle, gut
einprägst, kann dir nichts passieren.«
»Ich werde mir alles merken.«
Zufrieden führte Gannel ihn von den Statuen
fort und stieg mit ihm eine Wendeltreppe hinauf. Während sie die
Stufen erklommen, schob das Clan-Oberhaupt eine Hand in seine Robe
und holte eine schlichte Halskette heraus, an der ein winziger
silberner Hammer hing. Er gab Eragon die Kette.
»Das ist ein weiterer Gefallen, um den
Hrothgar mich gebeten hat«, erklärte Gannel. »Er fürchtet,
Galbatorix könnte nach deiner Begegnung mit Durza und den Ra’zac
wissen, wie du aussiehst.«
»Warum sollte mich das beunruhigen?«
»Weil Galbatorix dich dann mit der
Traumsicht beobachten könnte. Vielleicht hat er es bereits
getan.«
Eragon lief ein kalter Schauer über den
Rücken. Daran hätte ich denken
müssen, schalt er sich.
»Wenn du die Kette trägst, kann niemand dich
und deinen Drachen mit der Traumsicht einfangen. Ich habe sie
persönlich mit einem Schutzzauber belegt. Sie sollte selbst den
stärksten Geist abwehren können. Aber sei gewarnt, wenn sie
aktiviert ist, nährt sich die Kette von deiner Kraft, bis du sie
entweder abnimmst oder die Gefahr vorüber ist.«
»Was geschieht, wenn ich schlafe? Könnte die
Kette mich all meiner Kraft berauben, ohne dass ich es
merke?«
»Nein. Sie wird dich aufwecken.«
Eragon rollte den winzigen Hammer zwischen
den Fingern. Es war schwierig, einen feindlichen Zauber abzuwehren,
ganz besonders den von Galbatorix. Wenn
Gannel so versiert ist, welche anderen Zauber könnten dann noch in
dem Geschenk verborgen sein?
Er sah die winzigen Buchstaben, die in den
Hammergriff eingraviert waren. Sie ergaben die
Worte Astim Hefthyn.
Als sie die Wendeltreppe erklommen hatten,
fragte er: »Warum benutzen Zwerge eigentlich die gleiche Schrift
wie die Menschen?«
Zum ersten Mal lachte Gannel. Seine Stimme
hallte durch den Tempel, seine Schultern bebten. »Es ist genau
andersherum! Die Menschen schreiben mit unseren Buchstaben. Als
deine Vorväter nach Alagaësia kamen, waren sie so ungebildet wie
Kaninchen. Bald darauf haben sie jedoch unser Alphabet übernommen
und es ihrer Sprache angepasst. Einige eurer Wörter stammen sogar
von uns, zum Beispiel ›Vater‹, was ursprünglich Farthen hieß.«
»Dann heißt Farthen Dûr also...« Eragon zog
sich die Kette über den Kopf und schob sie unter das Wams.
»›Unser Vater‹.«
Gannel führte Eragon durch eine Tür auf eine
runde Galerie, die direkt unter der Dachkuppel lag. Der Gang führte
einmal ganz um den Celbedeil herum und bot durch die offenen
Torbögen einen herrlichen Blick auf die Berge hinter Tarnag und auf
die terrassenförmige Stadt selbst.
Eragon hatte kein Auge für die
beeindruckende Aussicht, denn die Innenwand der Galerie bestand aus
einem einzigen, fortlaufenden Riesengemälde, einer gigantischen
Geschichtsdarstellung, die mit Helzvogs Schöpfungsszene begann. Die
sich reliefartig von der Oberfläche erhebenden Figuren und
Gegenstände und die leuchtenden Farben und winzigsten Details
ließen das Panorama vollkommen lebensecht aussehen.
Fasziniert fragte Eragon: »Wie hat man das
angefertigt?«
»Jede einzelne Szene wurde in kleine
Marmorplatten gemeißelt, in Feuer emailliert und mit den anderen
zusammengefügt.«
»Wäre es nicht einfacher gewesen,
gewöhnliche Malfarben zu verwenden?«
»Sicher«, sagte Gannel, »aber dann würden
die Darstellungen keine Jahrhunderte oder Jahrtausende überdauern.
Anders als Ölfarben verblasst Emaille nie und verliert nie ihren
Glanz. Dieses erste Teilstück wurde nur ein Jahrzehnt nach Farthen
Dûrs Entdeckung fertig gestellt, lange bevor die Elfen nach
Alagaësia kamen.«
Der Priester nahm Eragon am Arm und führte
ihn an den Schaubildern entlang. Jeder Schritt trug sie durch
ungezählte Jahre der Zwergengeschichte.
Eragon sah, wie die Zwerge einst als Nomaden
in der scheinbar endlosen Ebene im Landesinnern gelebt hatten, bis
es dort so heiß und trocken wurde, dass sie nach Süden ins
Beor-Gebirge umsiedeln mussten. So ist
also die Wüste Hadarac entstanden, machte er sich
fasziniert bewusst.
Während sie an den Wandgemälden entlang auf
die Rückseite des Celbedeil zuschritten, sah Eragon alles von der
Domestizierung der Feldûnost, der Herstellung Isidar Mithrims, der
ersten Begegnung von Zwergen und Elfen und den Krönungen der
verschiedenen Zwergenkönige. Und immer wieder wurden mordende und
brandschatzende Drachen gezeigt. Es fiel Eragon schwer, zu diesen
grausamen Darstellungen zu schweigen.
Seine Schritte wurden langsamer, als die
Gemäldeschau sich dem Ereignis näherte, das er zu finden gehofft
hatte: dem Krieg zwischen Elfen und Drachen. Die Zwerge räumten der
Auseinandersetzung viel Platz ein und zeigten bis ins letzte Detail
die Zerstörungen, die der Krieg über Alagaësia gebracht hatte.
Eragon schauderte entsetzt, als er die Darstellungen sah, in denen
Elfen und Drachen sich gegenseitig umbrachten. Die Schlachten
gingen Meter um Meter weiter, jedes neue Bild blutiger als das
vorherige, bis die Dunkelheit endlich dem Lichte wich und man einen
jungen, auf einem Klippenrand knienden Elf sah, der ein weißes
Drachenei in Händen hielt.
»Ist das...?«, flüsterte Eragon. »Ja, das
ist Eragon, der allererste Drachenreiter. Und die Darstellung
trifft ihn recht gut, denn er hat sich persönlich von unseren
Künstlern porträtieren lassen.«
Getrieben von seiner Faszination, trat
Eragon näher heran und studierte das Gesicht seines
Namensvetters. Ich habe ihn mir älter
vorgestellt. Der Elf hatte schräg gestellte Augen, die
auf eine krumme Nase und ein schmales Kinn herabblickten, was ihm
ein ungestümes Aussehen gab. Es war ein fremdartiges Gesicht, ganz
anders als sein eigenes... und trotzdem: Die angespannten,
hochgezogenen Schultern erinnerten Eragon daran, was er empfunden
hatte, als er Saphiras Ei fand. Wir sind
gar nicht so verschieden, du und ich, dachte er und
berührte die kühle Emaille. Und wenn
meine Ohren erst einmal so spitz sind wie deine, werden wir
wahrhafte Brüder sein, nur getrennt durch die Jahrhunderte... Ich
frage mich, ob du meine bisherigen Taten billigen
würdest. Er wusste, dass sie zumindest eines gemein
hatten: Sie hatten beide ihre Dracheneier behalten.
Er hörte, wie eine Tür geöffnet und wieder
geschlossen wurde, und sah am Ende des Ganges Arya auf sie
zukommen. Sie betrachtete die Gemälde mit derselben ausdruckslosen
Miene, die sie bei der Unterredung mit dem Ältestenrat aufgesetzt
hatte. Was immer sie dabei fühlte, er spürte, dass sie die Bilder
geschmacklos fand.
Arya nickte. »Grimstborith.«
»Arya.«
»Hast du Eragon eure Mythologie
erklärt?«
Gannel lächelte ausdruckslos. »Man sollte
immer den Glauben der Gemeinschaft begreifen, der man
angehört.«
»Aber etwas zu begreifen, bedeutet nicht,
dass man daran glauben muss.« Sie strich über eine der
Galeriesäulen. »Und es bedeutet auch nicht, dass diejenigen, die
ihrem Glauben folgen, dies nicht nur tun, um... sich zu
bereichern.«
»Willst du etwa bestreiten, dass die
Leistungen meines Clans dem Zwergenvolk Trost spenden?«
»Ich bestreite gar nichts, sondern frage
mich bloß, was man alles bewirken könnte, wenn ihr euren Reichtum
unter den Bedürftigen verteilen würdet, den Hungernden und
Heimatlosen. Ihr könntet sogar den Varden Lebensmittel schicken.
Stattdessen habt ihr euren Reichtum in ein Monument eures
Wunschdenkens gesteckt.«
»Das reicht!« Der Zwerg ballte die Fäuste,
Zornesflecken im Gesicht. »Ohne uns würde der Weizen auf den
Feldern verdorren. Seen und Flüsse würden das Land überschwemmen.
Unsere Weidetiere würden einäugige Missgeburten zur Welt bringen.
Und das Himmelsfirmament würde zerbersten unter dem Zorn der
Götter!« Arya lächelte. »Nur unsere Gebete und Andachten verhindern, dass
dies geschieht. Hätte es Helzvog nicht gegeben...«
Eragon konnte den einzelnen Streitpunkten
nicht lange folgen. Er verstand nicht Aryas vage Kritik am
Dûrgrimst Quan, entnahm aber Gannels Antworten, dass die Elfe
andeutete, die Zwergengötter würden gar nicht existieren, und dass
sie den Verstand eines jeden Zwergs, der einen Tempel betrat,
infrage stellte. Punkt für Punkt wies sie auf jeden Fehler hin, den
es ihrer Meinung nach in der Argumentation des Priesters gab -
alles mit höflicher Stimme vorgetragen.
Nach einigen Minuten hob Arya die Hand,
unterbrach Gannel und sagte: »Das ist eben der Unterschied zwischen
uns beiden, Grimstborith. Du hast dich nun mal Dingen verschrieben,
von denen du glaubst, dass sie wahr seien, die du allerdings nicht
beweisen kannst. Darum sollten wir uns einfach darauf einigen, dass
wir uns uneinig sind.« Sie wandte sich zu Eragon und sagte: »Die Az
Sweldn rak Anhûin haben Tarnags Bürger gegen dich aufgehetzt. Ûndin
ist, genau wie ich, der Meinung, dass du bis zu unserer Abreise am
besten in seiner Halle bleibst.«
Eragon zögerte. Er wollte mehr vom Celbedeil
sehen, aber falls wirklich Ungemach drohte, war sein Platz an
Saphiras Seite. Er verneigte sich vor Gannel und entschuldigte
sich. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Schattentöter«,
sagte das Clan-Oberhaupt. Er funkelte Arya an. »Tu, was du tun
musst, und möge Gûnteras Segen mit dir sein.«
Zusammen verließen Eragon und Arya den
Tempel und gingen, von einem Dutzend Krieger umgeben, durch die
Stadt. Auf dem Weg hörte Eragon wütende Schmährufe von einer
Zwergengruppe auf einer der unteren Terrassen. Ein Stein flog über
ein nahes Hausdach. Die Bewegung lenkte seinen Blick auf eine
dunkle, am Stadtrand aufsteigende Rauchwolke.
Sobald er in der Halle war, eilte Eragon in
seine Unterkunft. Er zog sein Kettenhemd über, legte Arm- und
Beinschienen an, setzte die Lederkappe, die Kettenhaube und den
Helm auf und nahm seinen Schild. Dann klaubte er sein Bündel und
die Satteltaschen auf und rannte in den Vorhof zurück, wo er sich
an Saphiras rechtes Vorderbein setzte.
Tarnag gleicht einem
umgestürzten Ameisenhügel, sagte sie.
Hoffentlich werden wir
nicht gebissen.
Wenig später kam Arya zu ihnen, während ein
Trupp von fünfzig schwer bewaffneten Zwergenkriegern im Hof
Position bezog. Die Zwerge warteten teilnahmslos, redeten leise
miteinander, während sie die verriegelten Tore und den dahinter
aufragenden Berg beobachteten.
»Sie befürchten, die Demonstranten könnten
uns den Weg zu den Flößen versperren«, sagte Arya und setzte sich
neben Eragon.
»Saphira kann uns immer noch
herausfliegen.«
»Schneefeuer auch? Und Ûndins Wachen? Nein,
wenn man uns aufhält, werden wir ausharren müssen, bis der Zorn der
Zwerge verraucht ist.« Sie studierte den sich verdunkelnden Himmel.
»Es ist traurig, dass du diese Gruppe gegen dich aufgebracht hast,
aber vielleicht war es unvermeidbar. Die Clans waren untereinander
schon immer zerstritten; was dem einen gefällt, macht den nächsten
wütend.«
Er strich über sein Kettenhemd. »Inzwischen
wollte ich, ich hätte Hrothgars Angebot ausgeschlagen.«
»Ach was! Ich finde, du hast wie bei deiner
Entscheidung Nasuada betreffend auch in diesem Fall eine
vernünftige Wahl getroffen. Dich trifft keine Schuld. Wenn
überhaupt, ist Hrothgar schuld, denn er hat dir das Angebot
unterbreitet. Er hätte sich der Folgen bewusst sein müssen.«
Stille erfüllte die nächsten Minuten. Einige
Dutzend Zwergenkrieger schlenderten über den Hof und vertraten sich
die Beine. Schließlich fragte Eragon: »Hast du eigentlich noch
Familie in Du Weldenvarden?«
Es dauerte eine Weile, bis Arya antwortete.
»Niemanden, dem ich nahe stehe.«
»Warum... warum denn nicht?«
Wieder zögerte sie. »Ihnen missfiel mein
Entschluss, Botschafter der Königin zu werden. Es schien ihnen
unangemessen. Ich habe ihre Einwände ignoriert und ließ mir
das Yawë auf die Schulter
tätowieren - was versinnbildlicht, dass ich mich allein dem Wohl
unseres Volkes verschrieben habe. Dadurch ist jeder Elf, dem ich
begegne, verpflichtet, mir bei meiner Aufgabe zu helfen. Es ist
dasselbe wie mit dem Ring, den du von Brom bekommen hast. Aber
seitdem weigert sich meine Familie, mich zu empfangen.«
»Aber das war doch vor siebzig Jahren«,
entrüstete sich Eragon. Arya schaute in eine andere Richtung,
verbarg ihr Gesicht hinter einem Schleier aus Haaren. Eragon
versuchte, sich vorzustellen, wie es für sie sein musste - von
ihrer Familie verstoßen und von der Königin hinausgeschickt zu
werden in die weite Welt, um bei zwei völlig verschiedenen Völkern
zu leben. Kein Wunder, dass sie so
verschlossen ist, dachte er. »Bist du immer allein
zwischen Du Weldenvarden und dem Beor-Gebirge hin und her
gereist?«
Das Gesicht noch immer hinter dem
Haarschleier verborgen, sagte sie: »Wir waren zu dritt unterwegs.
Fäolin und Glenwing haben mich begleitet, wenn wir Saphiras Ei
zwischen Ellesméra und Tronjheim hin und her transportierten. Doch
Durzas Hinterhalt habe nur ich überlebt.«
»Wie waren die beiden denn?«
»Sie waren stolze Krieger. Glenwing liebte
es, sich mit den Vögeln zu unterhalten. Er ging oft allein in den
Wald und lauschte stundenlang ihren Liedern. Danach sang er uns
immer ihre schönsten Melodien vor.«
»Und Fäolin?« Diesmal verweigerte Arya eine
Antwort, doch ihre Hände griffen fester um den Bogen. Verzagt
suchte Eragon nach einem anderen Gesprächsthema. »Was hast du
eigentlich gegen Gannel?«
Sie wandte sich unvermittelt zu ihm um und
strich ihm mit zarten Fingern über die Wange. »Darüber«, sagte sie,
»reden wir ein anderes Mal.« Dann stand Arya auf und ging.
Eragon sah ihr verwirrt
nach. Was sollte das
denn?, fragte er sich und lehnte sich an Saphiras Bauch.
Sie schnaubte amüsiert, dann legte sie Hals und Schwanz um ihn und
nickte augenblicklich ein.
Während es im Tal dunkel wurde, bemühte
Eragon sich, wachsam zu bleiben. Er zog Gannels Halskette hervor
und untersuchte sie mehrmals mit Magie, fand aber nur den
Schutzzauber des Priesters. Er gab sich fürs Erste damit zufrieden,
schob die Kette zurück unter das Wams, zog den Schild über sich und
richtete sich für die Nachtwache ein.
Als am Himmel das erste Sonnenlicht
erstrahlte - obwohl es im Tal selbst noch dunkel war und bis zum
späten Vormittag auch bleiben würde -, weckte Eragon Saphira. Die
Zwergenkrieger waren schon auf den Beinen und umwickelten ihre
Waffen mit Stofftüchern, damit sie nicht klapperten, wenn sie sich
aus Tarnag herausschlichen. Ûndin hatte Eragon sogar dazu
angehalten, dasselbe mit Saphiras Klauen und Schneefeuers Hufen zu
tun.
Als alles fertig war, nahmen Ûndin und seine
Krieger Eragon, Saphira und Arya in ihre Mitte. Behutsam wurden die
Tore geöffnet - kein Laut kam von den geölten Angeln - und dann
machten sie sich auf den Weg hinunter zum See.
Tarnag wirkte verlassen; die leeren Straßen
waren gesäumt mit Häusern, deren Bewohner nichts ahnend in ihren
Betten lagen und schliefen. Die wenigen Zwerge, denen sie
begegneten, schauten sie schweigend an und huschten dann im
Halbdunkel wie Geister davon.
An den Toren jeder Terrasse winkte eine
Wache sie kommentarlos weiter. Bald hatten sie das eigentliche
Stadtgebiet hinter sich gelassen und überquerten die kahlen Felder
am Fuße der Zwergenstadt. Dahinter lag die Kaimauer, an die das
graue Wasser des Sees schwappte.
Zwei breite, längsseits an einer Mole
befestigte Flöße warteten auf sie. Auf dem ersten Gefährt hockten
zwei Zwerge, vier auf dem zweiten. Sie standen eilig auf, als Ûndin
in Sicht kam.
Eragon half den Zwergen, Schneefeuers Beine
zusammenzubinden und ihm Augenklappen anzulegen, dann führten sie
das störrische Pferd auf das zweite Floß, zwangen es auf die Knie
und banden es fest. Saphira sprang unterdessen von der Kaimauer in
den See. Nur ihr Kopf ragte aus dem Wasser, während sie anmutig
durch die dunklen Fluten glitt.
Ûndin packte Eragons Arm. »Hier trennen sich
unsere Wege. Du hast meine besten Krieger an deiner Seite. Sie
werden dich beschützen, bis du Du Weldenvarden erreichst.« Eragon
wollte sich bei ihm bedanken, aber Ûndin schüttelte den Kopf. »Es
gibt keinen Grund, mir dankbar zu sein. Ich habe nur meine Pflicht
getan. Es beschämt mich bloß, dass der kurzsichtige Hass der Az
Sweldn rak Anhûin dir deinen Aufenthalt bei uns verdorben
hat.«
Eragon verneigte sich und stieg dann mit
Orik und Arya auf das erste Floß. Die Taue wurden losgebunden und
die Zwerge stießen die Gefährte mit langen Holzstangen von der
Kaimauer ab. Als es zwischen den Bergen langsam hell wurde, trieben
die beiden Flöße und dazwischen Saphira schon auf die ferne Mündung
des Âz Ragni zu.